Ein jeder spricht von ihr oder über sie. Keiner kennt sie so richtig, aber jeder denkt, er müsse ihr den Weg bereiten. Manche fürchten sich sogar davor: Es geht um die Digitalisierung
Schlagworte wie »Industrie 4.0« oder »Disruptiver Wandel« sind in aller Munde, doch in so mancher Chefetage scheint man diese Entwicklung hin zur virtuellen Welt noch misstrauisch zu beäugen. Auf der Tagung der Niederrheinischen IHK in der Duisburger Mercatorhalle mit dem Titel »Digitale Logistik – Zwischen Vision und Praxis« machten die Experten schnell klar: Ein Wegducken kann es nicht geben, denn der Wandel kommt, und die Wirtschaft muss sich damit auseinandersetzen.
Nordrhein-Westfalens Verkehrsminister Henrik Wüst begrüßte die rund 300 Gäste mit den Worten, man wolle NRW zur Modellregion für Mobilität 4.0 entwickeln. Eine bessere Vernetzung der Verkehrsträger sowie eine bessere Auslastung digitaler Plattformen im Vordergrund habe man dabei ebenso im Blick wie eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Beides sei zur Absicherung des Wirtschaftswachstums nötig. Die neu geschaffene Fachabteilung »Mobilität, Digitalisierung und Vernetzung«, geleitet vom ehemaligen Leiter des Ministerbüros, Dirk Günnewig, trage diesem Ansinnen Rechnung.
Denn die digitale Infrastruktur sei mindestens ebenso wichtig wie die vernachlässigte Verkehrsinfrastruktur des Landes. Patentrezepte aber gibt es nicht. Das stellte auch Burkhardt Landers, Präsident der Niederrheinischen IHK, gleich zu Anfang der Veranstaltung klar. Eine Gemeinsamkeit aber hob der Internetblogger und »Spiegel online«-Kolumnist Sascha Lobo in seinem unterhaltsamen Vortrag hervor: Plattformen seien als wiederkehrendes Muster deutlich erkennbar, darin liege die Zukunft auch für die Logistikbranche.
»Die Menschen werden die Internetangebote nutzen, wenn sie vernetzend und einfach sind«, lautete sein Fazit. Den Logistikern attestierte er dabei eine Art »natürliche Affinität« zum Thema, da sie sich bereits bestens mit Vernetzungen und Echtzeit auskennen würden.
Er warnte aber auch vor zu zaghaften Investitionsversuchen. Internet-Unternehmen würden mit einer enormen Kapitalkraft in den Markt drängen und so lange aushalten, bis die »User« die jeweilige Plattform annehmen. Die Kundenbeziehungen würden in einer Phase gepflegt und gefestigt, in der die Plattform noch nicht profitabel sei. Daher riet er den meist mittelständigen Logistikern, alte Wettbewerbsregeln über Bord zu werfen und sich zusammenzuschließen, um mit der kombinierten Marktmacht bestehen zu können.
Experten aus der Branche, wie Bernd Gschaider, Regionaldirektor bei Amazon, und Gisbert Rühl, Vorstandsvorsitzender des Duisburger Stahlhändlers Klöckner & Co. SE, kamen in ihren Vorträgen zu ähnlichen Schlüssen. Auch von wissenschaftlicher Seite, namentlich vertreten durch Professor Michael ten Hompel vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML mit Sitz in Dortmund, kam Unterstützung für diese Einschätzung.
»Die Technik haben wir, wir müssen sie nun auch nutzen«, so ten Hompel. Wie Lobo verwies er auf den Finanzdruck im Reich der digitalen Kräfte: Man müsse den Markt stückweise kaufen, dazu sollte mindestens 1% des Umsatzes in Forschung und Entwicklung investiert werden, vornehmlich im Bereich Digitalisierung. Ten Hompel verwies auf Marktführer wie Amazon, die hier die Benchmarks vorgäben.
Der Online-Händler zeigt seit Jahren, wie es funktionieren kann: Sowohl eigene, als auch Waren der Mitbewerber werden auf der gleichen Plattform feilgeboten. »Etwa die Hälfte der Waren in den Logistikzentren gehört nicht uns«, sagt Bernd Gschaider von Amazon.
Gisbert Rühl will sich mit dem Stahlhändler Klöckner ebenfalls in diese Richtung entwickeln »Die Idee ist, eine offene Plattform für die Branche aufzubauen, die auch für unsere Wettbewerber zugänglich ist«, so Rühl. Mit dem separaten Aufbau von »kloeckner.i« in Berlin habe man bereits sein eigenes Start-up-Unternehmen geschaffen, soweit vom Mutterkonzern entfernt, dass es eigenständig digitale Tools und Portale entwickeln könne.
Andererseits nutze »kloeckner.i« für seine Lösungen das profunde Stahldistributions-Know-how und die Kunden- und Lieferantenbeziehungen von Klöckner & Co. »Start-Ups arbeiten völlig anders, weil sie schneller am Markt sein müssen«, erklärte Rühl.
Mit der neuen Industrieplattform Plattform XOM, die noch in diesem Jahr live gehen wird, wolle man nun einen weiteren entscheidenden Schritt gehen. Im Gegensatz zu einem Onlineshop mit Marktplatzfunktion werde die Industrieplattform unabhängig und auch für direkte Wettbewerber von Klöckner & Co offen sein. Man wolle zum Amazon des Stahlhandels werden und sich damit langfristig am Markt behaupten. XOM werde ein separates Unternehmen, Finanz-Partner für ein Venture Capital seien willkommen.
Der Hafenchef von duisport, Erich Staake, stellte noch einmal das Projekt »startport« vor, das Start-up-Unternehmen im Bereich Logistik fördert (die Binnenschifffahrt berichtete). Der Druck durch die Digitalisierung werde auch in der Transportbranche wachsen, so Staake. Der Duisburger Hafen will in Kürze ein 3D-Druck-Zentrum errichten. Damit habe man eine Produktionsoption, von wo aus die Produkte dann direkt verteilt werden könnten.
Professor ten Hompel ermutigte die Anwesenden, sich der Herausforderung zu stellen. »Das Ruhrgebiet kann Industriewandel«, sagte er, jetzt sei es an der Zeit, Apps direkt in Duisburg zu erproben. Es gehe darum, langfristig zusammenzuarbeiten und gleichzeitig Entwicklungen agil voranzutreiben.
Martin Heying