Bis die entscheidenden Punkte des neuen Zoll- und Handelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU ausgehandelt sind, können Logistiker ihre Organisation nicht anpassen. Bis zum Ende einer Übergangszeit soll erstmal alles beim Alten bleiben, meint der Chef von Dachser UK.
»Nein, die Welt geht nicht unter, wenn Großbritannien wie geplant nach dem 29. März 2019 nicht mehr Mitglied der Europäischen Union ist«, sagt Nick Lowe, Managing Director Dachser UK. Zwar sei noch nicht klar abzusehen, wie sich dies auf die Handelsvereinbarungen mit der EU und die damit verbundenen Zoll- und Transportfragen auswirken werde, bis jetzt bleibe das Unternehmen aber auf seinem eingeschlagenen Kurs.
»Das heißt, wir stellen uns weiter auf steigende Ex- und Importe nach beziehungsweise aus Europa ein«, so Lowe. Mit Blick auf mögliche Veränderungen in der Zukunft biete das europäische Netz von Dachser Möglichkeiten, die Verkehre zwischen Großbritannien und der EU innerhalb des Netzes umzugestalten, um so eventuell notwendige Zollabwicklungsprozesse im Umschlag zu optimieren.
Wenn es dann Zeit für verbindliche Regelungen werde, könne der Brexit natürlich weitreichende Veränderungen für den Warenverkehr bewirken, sagt Lowe. »Die britische Regierung hat seit geraumer Zeit mit dem Brexit auch einen Verbleib in der Zollunion und im Binnenmarkt ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund werden grenzüberschreitende Verkehre mit großer Wahrscheinlichkeit künftig komplizierter und langwieriger.« Von der wachsenden Komplexität im Handel betroffen seien nicht nur direkte Warenim- und -exporte, sondern auch die hoch integrierten und nahtlos ineinandergreifenden Lieferketten zwischen Großbritannien und der EU.
Sensible Lieferketten
Wie sensibel sorgsam austarierte Lieferketten gegenüber systemischen Veränderungen sind, hat kürzlich das Beratungsunternehmen KPMG am Beispiel des Hafens von Dover vorgerechnet. Etwa 90 % des Handels zwischen Großbritannien und der EU verlaufen demnach per Shortsea-Transport, entweder über die Straße von Dover oder durch den Eurotunnel. Eine Verzögerung bei der Ein- und Ausfuhr von nur zwei Minuten im Hafen von Dover würde nach der KPMG-Studie zu einem Rückstau von bis zu 27 km ins Landesinnere führen. Parkplätze für Lkw gibt es, wenn überhaupt, nur wenige. Bei acht Minuten Wartezeit bei der Freigabe von Lkw würde diese Warteschlange bereits an die Stadtgrenze von London reichen.
Szenarien wie dieses haben Branchengruppierungen wie die Confederation for British Industry (CBI) veranlasst, entgegen dem Kurs von Regierung und Pro-Brexit-Politikern für einen wie auch immer gestalteten Verbleib Großbritanniens im Binnenmarkt und der Zollunion zu werben. Mittlerweile stimmen die EU und Großbritannien trotz anhaltendem Widerwillen im politischen Lager der Brexit-Befürworter auf breiter Ebene darin überein, dass es von Ende März 2019 bis Ende Dezember 2020 – und wahrscheinlich sogar darüber hinaus – eine Übergangsregelung geben wird, bei der alles beim Alten bleibt. In dieser Zeitspanne wird es weiterhin freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr geben und Handels- und technische Normen sowie alle anderen Aspekte so angeglichen werden, als wären wir immer noch Mitglied des Binnenmarkts und der Zollunion.
Bis der grobe Rahmen und die entscheidenden Punkte des neuen Zoll- und Handelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU ausgehandelt und veröffentlicht sind, können die Unternehmen laut Lowe nicht gezielt damit beginnen, ihre Systeme, Verwaltung, Finanz- und Rechtslage sowie den Aufbau und die Organisation ihrer europäischen Beschaffungs- und Lieferketten sukzessive anzupassen, um für die Umsetzung des neuen Abkommens am Ende der Übergangszeit gerüstet zu sein. Die Branche halte weiterhin an der Hoffnung fest, dass, wie auch immer die Vereinbarungen am Ende aussehen werden, der Handel im Sinne der von Premierministerin Theresa May regelmäßig beworbenen Vision des »reibungslosen Handels« mit möglichst wenig Barrieren weiterläuft.
Desaströses Ausscheiden ohne Deal vermeiden
Lowe ist überzeugt, dass die Verhandler Großbritanniens und der EU noch einen langen, steinigen Weg vor sich liegen haben. Die Diskussion, ob es einen »harten« oder »weichen« Brexit geben werde, sei Schnee von gestern. Auf der politischen Agenda stehe nun vielmehr, ein desaströses Ausscheiden ohne Deal zu vermeiden und stattdessen ein umfassendes, kreatives Handelsabkommen abzuschließen, das die Freizügigkeiten, die Großbritannien als EU-Mitglied genießt, weitgehend erhalten soll – aber ohne die ganzen Verpflichtungen und folglich auch ohne die Vorteile. Einem solchen Rosinen-Picken haben EU-Politiker und -Verhandlungsführer aber schon eine deutliche Absage erteilt.
Für die Logistik in UK verbinden sich viele offene Fragen: Wie könnte die neue Grenze aussehen? Und wie die Zollabwicklung? Wie wird die Grenzfrage in Irland geregelt? Würde sich die Zollabwicklung zwischen Großbritannien und der EU von der aktuellen Drittstaaten-Abwicklung von Sendungen wie beispielsweise aus China unterscheiden? Wird dazu ein vereinfachter Prozess eingeführt? Wie realistisch ist die Idee einer »elektronischen Grenze«, mit der die Zollabwicklung für EU- und britische Waren vom physischen Warenfluss abgekoppelt und ein auditbasiertes Nachverzollungsverfahren eingeführt würde, wodurch das Ziel des „reibungslosen Handels“ weitgehend erreicht werden könnte? Und würde es die EU Großbritannien gleichtun? »Der Fragenkatalog ist sehr umfangreich und wächst beständig weiter« meint Lowe.