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Der Zustand der Binnenwasserstraßen und ihrer wichtigen Anlagen wie Schleusen und Wehre ist besorgniserregend. »Fünf nach zwölf«, sagen Insider, die die Verhältnisse kennen – und das nicht mehr hinter vorgehaltener Hand

Schleuse Dorsten, Ende April 2019. An der Südseite der Kammer haben sich auf Einladung des Verbands der Chemischen Industrie (VCI-NRW) Vertreter von Behörden, Politiker und Verbandsfunktionäre versammelt. An der Nordseite der Schleuse haben Wolfgang Lengenfeld und Markus Leitert Dienst. In knallgelber Montur, in Sicherheitsgeschirr und angeleint, verrichten sie dort ihren Job: sie sind »Taufänger«, besser gesagt: Festmacherhelfer an der Schleuse. Weil die Nischenpoller nicht mehr die heute nötigen Kräfte aufnehmen können, assistieren die Festmacher den Binnenschiffern dabei, beim Schleusungsvorgang ihre Schiffe abzusichern.

Nur so ist gewährleistet, dass die Schleusen im Wesel-Datteln-Kanal (WDK) eine einigermaßen an den Notwendigkeiten orientierte Leistung entfalten können. Beim Blick auf die massiven Betonblöcke, die entlang der Schleusenkante zur Absicherung der Festmacher stehen, ist erkennbar: Das ist kein Provisorium, sondern eine auf viele Jahre angelegte Lösung. Bis 2025 geht der Vertrag zunächst. Was im aber Nord-Ostsee-Kanal gängige Praxis ist, dürfte im westdeutschen Kanalnetz eigentlich gar nicht zur Notwendigkeit gehören.

Der Zustand der Binnenwasserstraßen bereitet der Industrie an den Kanälen aktuell große Sorgen. Die knapp 40 Vertreter aus dem Bundesverkehrsministerium, der Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt (GDWS), dem NRW-Verkehrs- und Wirtschaftsministerium, zudem Bundes- und Landtagsabgeordnete, Binnenhafenbetreiber, Binnenschiffer und Vertreter aus den betroffenen Kommunen und Unternehmen in Dorsten und Marl wollen nicht nur über die dringend notwendigen Kanalsanierungen reden. Sie wollen Taten sehen, über Geld, Personal und Termine reden und darüber, wie sich die Uhr wieder auf »fünf vor zwölf« zurückdrehen lässt.

Schnell und effektiv handeln

Gerd Deimel, der stellvertretend für ein Aktionsbündnis von neun Betrieben der Chemie und Petrochemie spricht, vergleicht die Kanäle im Ruhrgebiet mit Venen und Arterien im menschlichen Körper und sieht einen drohenden Infarkt, wenn nicht ganz schnell und ganz effektiv gehandelt wird. »Wir sind angewiesen auf die Wasserstraßen, das sind wichtige Standortfaktoren«, sagt er. »Ich sehe die Gefahr einer logistischen Katastrophe, wenn wir noch einmal eine Situation wie 2018 bekommen«, mahnt Deimel.

Bis zu 50% Kapazitätsverluste habe es auf den Wasserstraßen gegeben, bis hin zum teilweisen Totalausfall. Hinzu sei das Niedrigwasser gekommen, mit reduzierten Lademengen für die Schiffe. Wenn die Hälfte der wasserseitigen Transporte verlagert werden müsse, bedeute dies, dass 900.000 Lkw-Touren zusätzlich auf die schon jetzt verstopften Straßen in NRW kämen. Das aber sei genau das Gegenteil der so oft beschworenen Verkehrsverlagerung weg von der Straße.

»Der Fortschritt der Ausfälle geht schneller als das nachwachsende Personal. Die Vergangenheit hat uns mächtig eingeholt«, so der Bündnissprecher. Also müsse man Druck machen, eine Gefährdung der Standorte und der Arbeitsplätze wolle man nicht akzeptieren. Hoffnung setzt Deimel auch in den Aktionsplan Wasserstraßen, den NRW-Verkehrsminister Wüst auflegen will, sowie den »Masterplan Binnenschifffahrt«, der Mitte Mai in Berlin vorgestellt wird.

Nachdem sich die Akteure vor Ort ein Bild der tatsächlichen Situation gemacht hatten, zogen sie sich zur internen Besprechung zurück. Dabei, so Teilnehmer der Runde, seien die Sorgen der Industriebetriebe, die von den Wasserstraßen abhängig sind, schonungslos auf den Tisch gekommen. »Ich habe noch nie so deutliche Offenbarungseide gehört, was die Analyse und Lösungen angeht«, beschreibt Deimel die Beratungen.

Zu wenig Personal verfügbar

Ein Engpass läge in der Verfügbarkeit des Personals. Da müsse man die Sichtbarkeit deutlich verbessern, so Uwe Wächters, der als stellvertretender Geschäftsführer des VCI NRW für Kommunikation zuständig ist. Wächters will die Ausbildung stärker bewerben und mit guten Perspektiven verbinden. »Das dauert aber ein paar Jahre«, so der Verbandsfunktionär.

Hoffnung setze man auf den Masterplan aus Berlin. Der müsse die richtigen Prioritäten setzen und die passenden Gewichtungen enthalten. Dabei sieht Deimel im Vorfeld bereits Anpassungsbedarf: »Da sind wohl Prioritäten nach Dingen gesetzt, die man nicht schließen kann, wie Wehre und Düker, da ist die Wirtschaft nicht entsprechend drin, das müssen wir ändern.« »Eine weitere Flickschusterei«, so Deimel wörtlich, könne man nicht hinnehmen.

»Entscheidend ist nun, dass dringend auch Taten folgen«, betont Hans-Jürgen Mittelstaedt, Geschäftsführer VCI NRW: Es sei von zentraler Bedeutung, dass Bund und Land an einem Strang zögen und es nun zügig zu den dringend notwendigen Sanierungsmaßnahmen komme.

Hendrik Schulte, Staatssekretär im Verkehrsministerium des Landes NRW, blieb allgemeiner: »In Nordrhein-Westfalen gibt es auf den Wasserstraßen einen enormen Investitionsbedarf. Wirtschaft und Politik haben ein gemeinsames Interesse, dass der Bund die Infrastruktur für die Schifffahrt auf Vordermann bringt. Deswegen ist es auch gut, dass sich jetzt alle Beteiligten gemeinsam beim Bund für wirksame Maßnahmen einsetzen.« Dazu zählen nach Teilnehmeraussagen wohl auch neue Ansätze für Ausschreibungen und Verfahrensabläufe bei Neubauten und Instandsetzungsmaßnahmen.

Binnenschifffahrt stellt Weichen

»Mit dem ›Masterplan Binnenschifffahrt‹ stellen wir die Weichen für das System Schiff-Wasserstraße für das nächste Jahrzehnt«, hofft Reinhard Klingen, Abteilungsleiter Wasserstraßen und Schifffahrt im Bundesverkehrsministerium, auf definitive Aussagen aus Berlin. Klingen weiter: »Niedrigwasser und Engpässe an den Schleusen machen es deutlich: Zuverlässige Wasserstraßen sind eine wichtige Voraussetzung für eine zukunftsfähige Chemie- und Stahlindustrie in Deutschland.« Auf der Regionalkonferenz am 28. Mai in Duisburg will er einen Maßnahmenplan für die Wasserstraßen in Nordrhein-Westfalen vorlegen, um »klare Prioritäten« für das westdeutsche Kanalnetz zu setzen.

Hans-Heinrich Witte, Präsident der GDWS, betonte, man wisse »um die große Bedeutung« des Westdeutschen Kanalnetzes. Daher habe man kontinuierlich in dieses wichtige Verkehrsnetz investiert und werde das auch weiterhin ganz gezielt und konsequent fortsetzen. »Dabei steht eine noch schnellere Planung und Umsetzung der Baumaßnahmen für uns an erster Stelle«, so Witte.

Die Ergebnisse des Schleusengipfels sollen nun zusammengefasst werden, um damit in Berlin auf die Dringlichkeit der Situation hinzuweisen.
Hermann Garrelmann